Bericht vom 27. Prozesstag – 20.01.2022

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Bericht vom 27. Prozesstag im Antifa Ost-Verfahren am OLG Dresden am 20.01.22

Am 27. Verhandlungstag vor dem OLG Dresden im Verfahren gegen vier Angeklagte wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und verschiedener Angriffe auf Neonazis wurde die Vernehmung des DNA Sachverständigen Dr. Salomo fortgesetzt. Ein längerer Antrag der Verteidigung zum Komplex Eisenach, der die Verhältnisse in der ostthüringischen Stadt beleuchtete und Kritik am Vorgehen der Bundesanwaltschaft darlegte, sorgte für Diskussionsstoff. Zuletzt wurde die Molekularchemikerin Dr. Winzi vom LKA Sachsen gehört, die ihre Arbeit an einer Spur, die an einer Plastiktüte, welche im Tatkomplex Enrico Böhm am Tatort aufgefunden worden sei, präsentierte.

Zu Beginn der Verhandlung wurde die Vernehmung des Sachverständigen Dr. Salomo vom Vortag fortgesetzt. Dieser bestätigte die meisten Aussagen und Erklärungen seines Kollegen Dr. Lippold und erklärte mehrfach und detailliert, warum Wahrscheinlichkeitsberechnung bei Mischspuren keinen Sinn ergäbe.
Daran anknüpfend erläuterte der Sachverständige, dass die Probe 03.2, genommen am Knoten einer am Tatort gefundenen Plastiktüte, eine komplexe Mischspur darstelle, die verschiedene Merkmale enthalte. Unter den Merkmalen befänden sich auch solche, die den DNA Merkmalen des Geschädigten und dreier im Verfahren beschuldigter Personen entsprechen würden, wobei im laufenden Verfahren nur eine der Personen angeklagt ist.
Die Frage, ob die Signalstärken von Merkmalen im Elektropherogramm zwangsläufig auf die Aussagekraft, wer der Hauptverursacher der Spur ist, schließen lässt, wurde divers diskutiert und konnte am Ende der Vernehmung nicht eindeutig geklärt werden, da die Aussagekraft einer DNA Probe generell von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängt. Insbesondere komplexe Mischspuren sind wenig Aussagekräftig. Der Vorsitzende gab sich mit solch generalisierten Antworten jedoch nicht zufrieden, sodass die Faktoren, die auf auf die Aussagekraft der Spur schließen lassen, im einzelnen diskutiert wurden. Derart heruntergebrochen und voneinander isoliert betrachtet, ergaben sich mit der Grundaussage, dass solche Spuren wenig zu gebrauchen sind, widersprechende Aussagen. Das hohe Interesse des Gerichts, die Aussage des Sachverständigen auf einzelne Bewertungspunkte zu lenken, statt die Gesamtbetrachtung der Analyse zu fokussieren, sorgte für Irritationen.
Bis zuletzt konnte nicht geklärt werden, ob es sich bei den spurenverursachenden Personen um drei, vier oder gar neun Personen handeln würde.

Die Bundesanwaltschaft legte in ihrer Befragung Wert darauf herauszuarbeiten, dass die Merkmale, die auch mit einer angeklagten Person übereinstimmen würden, in allen 16 untersuchten Merkmalsystemen enthalten seien. Dass diese sich jedoch zum Teil mit den Merkmalen des Geschädigten überlagern, das weitere Personen ebenfalls für solche Überlagerungen sorgen könnten und sogenannte Drop Ins nicht ausgeschlossen werden konnten, lässt diese Feststellung jedoch als nicht sonderlich relevant erscheinen.

Zum Verständniss der Ausführungen vom Sachverständigen sei auf den Bericht vom Vortag, sowie dem 2. Prozesstag verwiesen.

Die Verteidigung fragte vor allem nach der Art und Weise, wie die Proben genommen wurden, aber auch nach dem Ablauf der Verarbeitung. Hierbei äußerte sich der Wissenschaftler in Bezug auf die Abschätzung der Verwertbarkeit der Proben, dies sei vielleicht nicht hundertprozentig korrekt, aber nach bestem Wissen und Gewissen vonstatten gegangen.

Am Ende der Vernehmung entstand ein Streit über die Entlassung des Sachverständigen. Die Verteidigung beantragte den Zeugen nicht zu entlassen, da noch einige Fragen offen seien, die möglicherweise im Anschluss der Vernehmung von Frau Dr. Winzi entstehen könnten, da Dr. Salomos Gutachten auf dem von ihr gefassten Gutachten aufbaut. Das Gericht wollte den Zeugen dennoch entlassen. Nach einigem Hin und Her, sowie der Beantragung eines Gerichtsbeschlusses zum Thema, wurde der Sachverständige schlussendlich entlassen.

Im Anschluss an die Vernehmung des Sachverständigen vom Landeskriminalamt erhielt Rechtsanwalt Werner das Wort, um eine Erklärung zur Aussage des Zeugen N. vom 25. Verhandlungstag abzugeben. Dieser konnte keinen Beitrag zur Aufhellung der Wohnverhältnisse eines Beschuldigten geben. So verweigerte er zwischenzeitlich die Aussage und konnte sich an relevante Punkte nicht erinnern. Einzig zur fraglichen Türsicherung in der von ihm vormals gemieteten Wohnung konnte er aufklären, dass diese bereits im Jahr 2012 existierte, also nicht von einem Angeklagten angebracht wurde.

Eisenacher Zustände

Anschließend bat der Rechtsanwalt darum, dass der folgende Beweisantrag nicht unterbrochen werde, da er etwas umfangreicher sei und einen gewissen Spannungsbogen beinhalte.

So trug RA Werner vor, dass die Beweiserhebungen zum Tatkomplex Eisenach um die Betrachtung der sogenannten Eisenacher Zustände erweitert werden muss. Dazu soll das Gericht Auszüge aus der Chronik rechter Vorfälle in Eisenach, die die Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen – EZRA und die Mobile Beratung für Demokratie – MOBIT veröffentlichten, in die Hauptverhandlung einführen. Ebenso soll der Wissenschaftler Dr. Salheiser vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft als Sachverständiger im Gericht gehört werden und der von ihm verfasste Forschungsbericht mit dem Titel „Rechtsextremismus in Eisenach – Kritische Bestandsaufnahme und Analyse“ in Auszügen verlesen werden.

Ergänzend zu den Ausführungen, die im Gerichtssaal dargelegt wurden, möchten wir auch hier nicht unerwähnt lassen, dass sich in Eisenach seit vielen Jahren eine rechte Hegemonie etabliert hat. Faschistische Gruppen und Strukturen greifen seit geraumer Zeit immer wieder nicht-weiße oder nicht deutsche, sowie linke Personen und Institutionen an. Eisenach ist weithin bekannt für eine toxische Mischung aus rechtskonservativem Gesellschaftskonsens, auf dem radikale Nazistrukturen einen Nährboden für ihre menschenverachtende Ideologie gefunden haben. Nicht ohne Grund erlangt die NPD über 10% in den Kommunalwahlen, während die jährlichen Burschenschaftstreffen der rechtsaußen befindlichen Männerbünde auf der Wartburg stattfinden – der faschistische AfD-Politiker Bernd Höcke, unterstützt von einer Jugendorganisation mit dem provokanten Namen „Höckejugend“, der nur einen Steinwurf entfernt von der thüringischen Kleinstadt wohnt und Gruppen wie der „Nationale Aufbau“ und die Neonazi-Kampfsportvereinigung „Knockout 51“ konnten sich in diesen Verhältnissen jahrelang etablieren, ohne auf breiteren Widerstand zu treffen.
Im Gegenteil wurden antifaschistische Interventionen und Öffentlichkeit von großen Teilen der Eisenacher Bevölkerung als störend wahrgenommen.

Selbst Boulevardzeitungen berichteten bereits über die Auswüchse militanter Nazistrukturen vor Ort.
Die als Geschädigte auftretenden Neonazis Leon Ringl, Maximilian Andreas und deren Mitstreiter sind einige der relevanten Akteure in diesem Schaubild ostdeutscher Tristesse. Ringl’s Kneipe „Bulls Eye“ ist immer wieder Ausgangspunkt für Übergriffe auf Menschen, die nicht in das nazistische Weltbild der Betreiber und Kundschaft passen. Kaum ein:e jugendliche:r, die sich nicht im Heer der Rattenfänger von Eisenachern wiederfinden, kann nicht von Angriffen berichten, Punkkonzerte die überfallen werden und Sprühereien an den Wohnhäusern der politisch Missliebigen sind Alltag in „der Mitte Deutschlands„.

Erst kürzlich veröffentlichte die linke Zeitung Jungle World einen Artikel im Kontext, des in Rede stehenden Verfahrens über die Eisenacher Zustände. Die Zeitung „Neues Deutschland“ berichtete bereits 2019 über die Geschehnisse vor Ort.

Die beschriebenen Zustände etablierten sich keinesfalls in den letzten Jahren, vielmehr sind sie Ergebnis einer jahrelangen Kontinuität rechter Hegemonialansprüche. Der NPD Politiker Patrick Wieschke, der selbst enge Kontakte in das NSU-Netzwerk pflegte und dessen Rolle in der Terrorserie die Bundesanwaltschaft bis heute nicht bereit war aufzuklären, obwohl deutliche Hinweise existieren, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt die letzte Nacht vor der Selbstenttarnung in Eisenach bei ihm verbrachten, erfreute sich schon vor mehr als zwei Jahrzehnten großer Beliebtheit in der Wartburgstadt, woran auch eine Haftstrafe wegen eines Sprengstoffanschlags auf einen türkischen Imbiss nichts änderte.

Im Angesicht jener Zustände spricht die Bundesanwaltschaft nun von einer „Verlagerung weg vom gewaltfreien Diskurs“, betreffend der angeklagten Taten im Verfahren gegen die in Dresden Angeklagten…

Die offenkundige Schizophrenie dieser Behauptung erklärt sich nur unter Beachtung des Konstruktions- und Verfolgungswillen des Generalbundesanwalts. Als Hilfsargumentation dient sie nicht nur für die Begründung der Zuständigkeit des GBA, sondern auch zum Erhalt des Vorwurfs einer kriminellen Vereinigung, da die Voraussetzung einer Verurteilung nach §129 StGB „eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ beinhalten muss.

Direkt dem Beweisantrag anschließend folgte eine Kommentierung des Vorsitzenden. So sei der von der Verteidigung formulierte Vorwurf der Skrupellosigkeit, adressiert an die Bundesanwaltschaft, von dieser wohl nicht unkommentiert stehen zu lassen. Dies verbitte sich auch das Gericht.
Weiter erklärte der Richter, dass in der Abwägung zur Zuständigkeit des OLG ein entscheidender Punkt, die Reaktive der vorgeworfen Taten gewesen sei. Wenn also die Gegenseite reagiert, bekommt die Auseinandersetzung erst eine bedeutsame Rolle.

Auch Oberstaatsanwältin Geilhorn bezog Stellung zum vorgebrachten Antrag, den sie wenig überraschend für problematisch halten würde. Die Wortwahl der Verteidigung stelle eine Zuspitzung der Umgangsweise im Gericht dar. Ebenso wünsche sie sich, dass politische Erklärungen seitens der Verteidigung in Zukunft unterlassen würden. Ein Verfahren vor dem Staatsschutzsenat, unter der Regide der Bundesanwaltschaft als politische Abteilung konstituierte Anklage, möchte also lieber ohne politische Darstellungen verhandelt werden…
Vor allem aber stellte sich die Staatsanwältin im Auftrag des Generalbundesanwalts die Frage, in welche Richtung der Antrag zielen solle und zog in Betracht, ob gar eine Relativierung der angeklagten Körperverletzungsdelikte vorgenommen werden solle.

Dass dies nicht Fall sei, sondern die erklärten Umstände die Sichtweise möglicher Tatbeteiligten näher betrachte und damit letztlich auch eine Frage der Strafzumessung sei, sei laut Gericht wohl eher gemeint.

Uns sei an dieser Stelle ebenfalls ein Kommentar erlaubt:

Die Kommentierung des Vorsitzenden, die ex tempore auf den Antrag folgte, stellt ein Sinnbild – eher eine Inkarnation – der Extremismustheorie dar.
Unabhängig der Frage, ob die derzeit Angeklagten an den Angriffen in Eisenach beteiligt waren oder nicht, kann ein Diskurs, der nie friedlich stattgefunden hat auch nicht verlagert werden.
Mit der Feststellung seitens des
Vorsitzenden, dass mit den Geschädigten auch seiner Überzeugung nach kein friedlicher Diskurs zu bewerkstelligen sei, allerdings die gewaltsame Reaktion auf gewalttätige Aktionen offenkundig des Vorsitzenden demokratischen Nerv getroffen haben, wird eine Gleichsetzung betrieben, die der Realität nicht gerecht wird. Motivation und Umstände mit einzubeziehen ist hier nicht nur eine juristische Frage, die jedoch selbst das deutsche Strafrecht mit Sicherheit zulässt, sondern eine Folgerechte im Gesamtdiskurs, die dieses Verfahren mit sich bringt. Die Zuständigkeit der BAW/des OLG, das Brimborium rund um den Prozess, die mediale Aufmerksamkeit, all das ist Teil eines Gesellschaftsdiskurses in Zeiten der Unsicherheit und Diskursverschärfung. Ausgehend vom Glauben, die gesellschaftlichen Ränder gewinnen an Stärke, es fände eine Radikalisierung der Extreme statt und diese sei nur zu verhindern durch konsequentes – repressives – Vorgehen gegen beide Pole, werden die hier Angeklagten weiter durch die Manage getrieben und der Rechtsstaat an ihnen examiniert.

Die Umstände in Provinzen wie Eisenach, die Verantwortlichkeiten für das Erstarken rechtsradikaler Strukturen und der polarisierten Konflikte sind Teil einer Verschärfung der Allgemeinzustände. Bei all den großen Fragen gesellschaftlicher Diskurse, vom Klimawandel über Krieg und Hungersnöte bis hin zu den Lebensumstände der Thüringer Bevölkerung – ohne eine Gleichsetzung jener Themenpunkte setzen zu wollen, sind die Antworten im Kapitalismus und der Zuspitzung der Ungleichheit zwischen Arm und Reich zu suchen.
Wir glauben nicht daran, dass ein Radebeuler Oberschichtsrichter ein Interesse an einer Analyse der Gesamtumstände hat, allerdings ist es nunmal eine faktische Frage auf welcher Grundlage hier eine besondere Bedeutung angenommen wird, vielmehr warum es der Rechtsstaat nötig hat, seine Regeneration an diesem Fall zu vollziehen.

Ist es wirklich ein und dasselbe, wenn ein Faschist einen Menschen verletzt, weil dieser nicht im gleichen Land wie er selbst geboren ist oder ein Nazi verletzt wird weil er eben dies tut? – Nein, ist es nicht!

Anschließend an die Ausführungen aller Beteiligten wurde die Sachverständige Dr. Maria Winzi vernommen. Diese arbeitet ebenso wie Dr. Lippold und Dr. Salamo im LKA Sachsen als DNA Expertin und war ebenfalls an der Auswertung der DNA Spuren, die an der schon erwähnten Mülltüte gesichert wurden, beteiligt.

Zu Beginn erläuterte sie mehr oder minder die gleichen Fakten, die Dr. Lippold und Dr. Salamo schon darstellte. Irritation löste vor allem die Nennung des sogenannten Random Men not excluded-Index (RMNE) aus. Dieser errechnet eine mathematische Wahrscheinlichkeit, in wie weit eine zufällige Person aus der Vergleichspopulation als Mitverursacher einer Mischsspur nicht ausgeschlossen werden könnte. Angewandt wird die Rechnung nur dann, wenn besser geeignete Rechnungen wie zum Beispiel die „Random Match Possibility“ aufgrund der Spurenkomplexität nicht errechenbar ist.

Die Rechnung stellt mit gewissen Einschränkungen also eher die Frage nach der Möglichkeit, ob DNA Muster übereinstimmen könnten, statt die relevantere Frage nach der Wahrscheinlichkeit, ob sie nicht übereinstimmen könnte. Die mathematische Komplexität des Index konnte ohne weitere Recherche auch von der Sachverständigen nicht erklärt werden, daher wurde ihre Vernehmung verschoben und die Verhandlung recht ad hoc gegen 17 Uhr unterbrochen.

Die nächsten Prozesstage, an denen auch die Eisenacher Neonazis Leon Ringl und Maximilian Andreas gehört werden sollen, finden am 26.01 und 27.01 am OLG Dresden statt.