Bericht vom 90. Prozesstag – Mittwoch, 15.03.2023

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Bericht vom 90. Prozesstag im Antifa Ost-Verfahren am OLG Dresden am 15.03.2023

Am 90. Prozesstag im Antifa Ost-Verfahren am OLG Dresden wurden die Beschlüsse zu den Beweisabträgen der Verteidigung vom 89. Prozesstag verkündet. Ebenso gab es eine Gegenvorstellung seitens der Verteidigung zum Wortentzug am letzten Prozesstag. Ein erneuter rechtlicher Hinweis seitens des Vorsitzenden führte zu einer längeren Pause und letztlich zu einer zweiwöchigen Unterbrechung der Verhandlung. Somit wurde die Beweisaufnahme erneut nicht beendet.

Vor Prozessbeginn

Der Tag startete mit parallel stattfindenden Hausdurchsuchungen in Leipzig und Jena. Es ist nicht das erste Mal, dass zeitgleich zum Prozess Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden: So kam es bereits am 28. und 54. Prozesstag zu Hausdurchsuchungen bei Gefährt:innen und Genoss:innen. Diesen wie auch den jetzt Betroffenen drücken wir unsere vollste Solidarität und Unterstützung aus, ihr seid nicht allein.

Der Zuschauer:innenraum war gut gefüllt. Einige solidarische Besucher:innen waren zugegen, aber auch erstaunlich viel Presse. Nachdem lange Zeit nur einzelne Pressevertreter:innen vor Ort waren und den Prozess verfolgten, schien die Hoffnung auf das Ende der Beweisaufnahme und einem möglichen Start der Plädoyers das Interesse gesteigert zu haben.

Prozessbeginn: Auseinandersetzung mit Beweisantrag 1 der Verteidigung (Tatortrekonstruktion Bahnhof Wurzen)

Der Prozess startete 09:45 Uhr. Die rechten Nebenklagevertreter Hentze und Hohnstädter waren zugegen, Kruppe kam erst mit fast einstündiger Verspätung. Er verließ mit Hohnstädter den Prozess bereits zur ersten Pause wieder.

Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung und kam direkt auf den Beweisantrag 1 der Verteidigung vom 89. Prozesstag zu sprechen. In diesem ging es um die Tatortrekonstruktion mittels Videomaterial vom Bahnhof Wurzen (Tatkomplex Wurzen). Die Verteidigung wollte u.a. nachweisen, dass lediglich sieben Person an dem Angriff beteiligt waren. Der Vorsitzende führte aus, er habe sich das Video nochmals angeschaut und käme auf acht Personen, die in dem Ausschnitt zu erkennen seien und nicht sieben. Daher wollte er die Verteidigung fragen, ob diese den Antrag aufrecht erhält oder abändert.

Die Verteidigung sieht den Antrag nicht als erledigt an. Sie hat sich das Video nochmals in Ruhe angeschaut und kommt auf sechs Personen, die zu sehen sind, sowie zwei Schatten, die zu zwei weiteren, nicht auf dem Video sichtbaren Personen gehören. Entsprechend ließ die Verteidigung den Antrag von sieben auf acht Personen abändern, was der Vorsitzende protokollieren ließ.

Anschließend wurde das Video wiederholt in Augenschein genommen. Der Vorsitzende kommentierte das Video und merkte an, die Kamera habe wohl erst später aufgenommen, als die Verteidigung vermutet habe. Er habe zu Beginn der Videosequenz einen Schatten gesehen, dem seiner Ansicht nach eine vorbeilaufende Person vorausgegangen sein müsste. In diesem Fall hätte er einen sofortigen Start der Videoaufzeichnung erwartet. Die Verteidigung erwiderte, dass Video könnte geschnitten sein. Die Kioskbesitzerin hatte alles Videomaterial des Tatabends bzw. -nacht an die Polizei übergeben.

Der Vorsitzende ging über, den Antrag betreffende Beschlüsse zu verkünden. So lehnte er den Beweisantrag der Verteidigung vom 09.03.2023 auf ein Sachverständigen-Gutachten sowie die Vernehmung der Kioskbesitzerin als Zeugin ab. Der Beweisantrag würde nichts zur Wahrheitsfindung beitragen. Zudem behaupte der Beweisantrag, dass maximal acht Personen an dem Angriff beteiligt gewesen seien, jedoch könne die Aufnahme das nicht belegen. So könnten sich weitere Angreifende aus anderen Richtungen genähert haben.

Auseinandersetzung mit Beweisantrag 2 der Verteidigung (Innenraumüberwachung)

Schlüter-Staats verfügte anschließend die Verlesung eines Behördenzeugnisses des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vom 13.03.2023. Dieses bezieht sich auf die Observation der Knastentlassungsparty einer angeklagten Person im Januar 2019. Der Vorsitzende verlas das Behördenzeugnis: Danach lägen keine Erkenntnisse zum Aufenthalt einer beschuldigten Person bei der Party vor. Der Vorsitzende ergänzte auf Nachfrage, dass er dem BfV kein Lichtbild des Beschuldigten habe schicken müssen, da dieser der Behörde bekannt sei.

Der Vorsitzende fragte die Verteidigung, ob der Antrag auf Ladung des BfV-Präsidenten Thomas Haldenwang damit erledigt sei, was diese bejahte.

Danach verfügte der Vorsitzende die Verlesung von Auszügen des Artikels „Verhalten auf Demos, bei Übergriffen und Festnahmen“. Schlüter-Staats verlas die Abschnitte „Allein oder zusammen?“, „Waffen, Drogen?“ und „Dresscode?“.

Zu finden ist der Demo-Ratgeber hier: .antifa.nrw/verhalten-demos-uebergriffe-festnahmen

Anschließend teilte der Vorsitzende mit, dass die Verlesung weiterer, über das Antragsziel hinausgehender Passagen abgelehnt werden. Im Weiteren verkündete Schlüter-Staats den Beschluss, dass der Beweisantrag vom 09.03.2023 hinsichtlich der Inaugenscheinnahme von Fotos eines Demo-Fotografens, von Texten zu Sitzblockaden am 15.02.2020 sowie die Vernehmung des polizeilichen Einsatzleiters der Polizeidirektion Dresden für die Demos an dem Tag abgelehnt werde. So sei die polizeiliche Abschlussmeldung bereits in einem der Selbstlesekonvolute enthalten. Zudem sei gerichtsbekannt, dass es Sitzblockaden gegeben habe und auch versuchte Angriffe durch Antifaschist:innen auf Neonazis.

Schlüter-Staats ging zur beantragten Einführung einer Sprachnachricht eines Angeklagten vom 16.02.2020 über. Den Inhalt dieser verlas er. Danach verkündete er die Ablehnung des Beweisantrags der Verteidigung vom 09.03.2023 auf Beschaffung und Inaugenscheinnahme der Sprachnachricht. Der Senat gehe davon aus, dass die Verlesung des Inhalts der Sprachnachricht ausreichend sei.

Senatsbeschluss hinsichtlich visuelle Unterstützung für das Verteidigungs-Plädoyer

Der am 88. Prozesstag gestellte Antrag der Verteidigung auf Nutzung der Saalmonitore zur visuellen Unterstützung für das Plädoyer wurde am 89. Prozesstag durch den Vorsitzenden abgelehnt, woraufhin die Verteidigung einen Senatsbeschluss beantragte. Der Senat bestätigte den Beschluss des Vorsitzenden.

Gegenvorstellung des Wortenzugs vom 09.03.2023

Am 89. Prozesstag hatte die Verteidigung einen Antrag hinsichtlich der Kostenübername eines Sachverständigen-Gutachtens verlesen. Das Gutachten stammte vom Kommunikationswissenschaftler Prof. Heinz Walter Schmitz, der mittels Beweisantrag der Verteidigung am 56. Prozesstag geladen war.

Die Verteidigung rekonstruierte den Ablauf der Verlesung des Antrages am letzten Prozesstag (siehe Prozessbericht vom 89. Prozesstag unter den Zwischenüberschriften „Weitere Anträge der Verteidigung – Antrag 1: Kostenübername des Sachverständigen-Gutachtens“ sowie „Fortsetzung von Antrag 1: Kostenübername des Sachverständigen-Gutachtens“). Der Senat bestätigte den Wortentzug und begründete die Entscheidung damit, dass eine Entscheidung über den Kostenantrag in der Hauptverhandlung nicht nötig sei. Der inhaltlichen Kritik seitens der Verteidigung wich der Vorsitzende aus. Hintergrund ist die Auseinandersetzung um entlastendes Beweismaterial, dass die Bundesanwaltschaft (BAW) unterschlagen hatte. Die Kritik der Verteidigung ist, dass der Vorsitzende nachweislich versucht, diesen schwerwiegender Fehler der BAW nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung werden zu lassen.

Anschließend zitierte die Verteidigung den noch fehlenden Teil des Antrags. Die BAW verfügte über eine Reihe von Erkenntnissen aus Akten, die aus einem anderen 129er-Verfahren, dem Berliner//Athen-Verfahren, stammten. Für dieses ist ebenfalls Oberstaatsanwältin Alexandra Geilhorn zuständig. Die Erkenntnisse aus den Akten des Berlin//Athen-Verfahren sollten als Vermerke in die Akten des hiesigen Verfahrens hinzukommen. Die vom Bundesgerichtshof angeordnete Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) gegen einen der Angeklagten, der gleichzeitig im Berliner//Athen-Verfahren beschuldigt ist, ging in einen Vermerk des Bundeskriminalamts (BKA) ein. Jedoch wurde in die hiesigen Akten ein anderer Vermerk des Kriminaloberkommissars Hartleib aufgenommen, in dem die TKÜ gegen den Angeklagten thematisierte wurde, die entlastenden Videoaufnahmen allerdings keine Erwähnung fanden. Folglich war aus dem Aktenbestand kein weiterer Anlass für Hinweise aus der TKÜ auf das hiesige Verfahren gegeben. Somit wurden entlastende Ermittlungsergebnisse verschleiert. Erst die Verteidigung brachte diese am 16.03.2022, dem 36. Prozesstag, ein. 

Zwischendurch kommentierte Schlüter-Staats, dass er den Namen Schmitz vermisse, aber er auch keine Lust mehr auf die Spielchen habe.

Die Verteidigung setzte unbeirrt die Gegenvorstellung fort und zitierte weiter aus dem noch fehlenden Teil des Antrags. Dem Senat hätten letztlich die Gesprächsinhalte aus der Innenraumüberwachung ausgereicht, um den Angeklagten zu verurteilen, wenn die Verteidigung nicht entsprechende Gegenbeweise vorgelegt hätte. Ähnlich war es bei einem weiteren Angeklagten, den letztlich ein Alibi entlastete; der Senat hätte aber auch ihn auf Grundlage der Innenraumüberwachung verurteilt. Der Senat hat auf Grund falscher Bilder der Angeklagten und der Annahme einer kriminellen Vereinigung falsche Annahmen bzgl. der beiden Taten – gemeint sind der Tatkomplex Eisenach I sowie der Tatkomplex Wurzen – gezogen.

Ein weiterer Beweisinhalt dieses Gesprächs ist der Angriff auf den Kanalarbeiter, worin es heißen soll „Das waren wir“. Die Aussage wird einer beschuldigten Person zugeordnet, weshalb der Senat von einer Beteiligung von Lina ausgeht. Jedoch ergibt sich eine Beteiligung der Angeklagten aus dem abgehörten Gespräch sowie der Nähe ihres Wohnortes zum Tatort nicht.

Nachdem die Verteidigung die Gegenvorstellung eingebracht hatte, meinte der Vorsitzende, es sei ein starkes Stück zu behaupten, die BAW habe absichtlich Akten nicht überführt. Die Verteidigung entgegnete, dass das so nicht gesagt wurde. Danach versuchte Schlüter-Staats sein Unverständnis über das Vorgehen der Verteidigung zu äußern und kommentierte zusätzlich, wo diese angeblich Fehler gemacht habe. Die Verteidigung konfrontierte den Vorsitzenden mit der Frage, wo in der StPO steht, dass ein Angeklagter verpflichtet ist, seine Unschuld zu beweisen.

Schlüter-Staats entgegnete, Frau Geilhorn habe den Fehler eingeräumt, aber es gehe auch darum, dass die Verteidigung genauso gehandelt habe. Danach folgte eine Belehrung dazu, wie Schlüter-Staats vorgehen würde: „Wenn ICH der Verteidiger wäre, wenn MEIN Mandant angeklagt wäre und ICH hätte einen Beleg dafür in der Hand, würde ICH dem Gericht so schnell wie möglich schreiben: ‚Hören Sie zu, da gibt es ein Alibi‘.“ Als die Verteidigung fragte, weshalb sich der Vorsitzende immerzu so umfangreich auf die Verteidigung bezieht, aber nicht die BAW in ihrer Arbeit kritisiert bzw. beaufsichtigt, entgegnete er abwiegelnd, er gehe davon aus, dass die Verteidigung den Vermerk selbst übersehen habe. Das sei bei solch einer umfangreichen Akte wie bei dem Angeklagten auch nicht auszuschließen. Durch die Annahme stehe der Vorwurf gegen die BAW in einem etwas milderen Licht.

Die Verteidigung erwiderte, dass das ein falscher Vergleich ist, da die Verteidigung eine angeklagte Person vertritt, wohingegen der Vorsitzende eigentlich die Arbeit der BAW bzw. der Ermittlungsbehörden bei fehlerhaften Verhalten kritisieren muss. Die Verteidigung verdeutlichte, dass es wiederholt zur Beweislastumkehr gekommen ist: Die Verteidigung wurde und wird in die Rolle versetzt, den Gegenbeweis zur Schuld ihrer Mandant:innen erbringen zu müssen.

Daraus entspann sich im Weiteren eine Diskussion zwischen dem Vorsitzenden sowie der Verteidigung. Schlüter-Staats meinte, es sei falsch, was die Verteidigung äußere. Das wollte der Vorsitzende sogleich unter Beweis stellen. So könne die Äußerung „Kneipe machen“ (siehe Zwischenbericht, Abschnitt Innenraumüberwachung) auch in einen anderen Zusammenhang gestellt werden. Der Vorsitzende verwies dabei auf das Propagandavideo des Neonazis Sebastian Schmidtke. Dieses wurde sich bereits am 41. Prozesstag in voller Länge angeschaut. In diesem kommt u.a. der Ex-NPD-Kader Enrico Böhm, zu Wort.

Schlüter-Staats sagte, in dem Video habe sich Böhm über einen Angriff in einer Kneipe im März 2015 geäußert. Somit könne sich die Äußerung „Kneipe machen“ auch auf andere Angriffe beziehen. Der Vorsitzende versuchte den Interpretationsrahmen dieser Äußerung nur scheinbar zu erweitern, letztlich verbindet er die Äußerung dennoch mit einem Angriff auf Neonazis.

Die Verteidigung hakte nach und wollte wissen, weshalb der rechtliche Hinweis nicht nach der Inaugenscheinnahme des rechten Propagandavideos erfolgte, sondern erst nach den entlastenden Fotos. Hierauf entgegnete der Vorsitzende, dass niemand aufgrund interpretationsbedürftiger Sätze angeklagt werden würde. Die Verteidigung verwies darauf, dass genau wegen solcher Sätze diese Verfahren überhaupt besteht und nur dadurch alle hier sitzen. Zugleich wollte die Verteidigung wissen, ob der Vorsitzende tatsächlich plante, die Beweisaufnahme Anfang Januar 2023 zu schließen und den Angeklagten, für den die Verteidigung erst Anfang 2023 ein Alibi vorlegen konnte, freizusprechen. Der Vorsitzende erwiderte, dies habe er nicht gesagte. Die Verteidigung hakte nach, ob der Vorsitzende den Angeklagten auch unschuldig verurteilt hätte.

Nachdem er flapsig einräumte, dass es durchaus dazu hätte kommen können, meinte der Vorsitzende, sich erklären zu müssen. 90 Tage seien verhandelt worden und das Verfahren sei sehr komplex. Manche Sachverhalte würden erst in der Schlussberatung entschieden werden, in der gewissenhaft beraten werden würde, bevor es zum Urteil käme.

Asservate

Schlüter-Staats ging nach diesen Ausführungen zum Thema Asservate über. So habe eine angeklagte Person bereits ihren Verzicht auf Herausgabe erklärt, mit Ausnahme von einem Gegenstand. Der Verzicht bestehe jedoch nur, wenn es zu einer Verurteilung käme. Dies ließ der Vorsitzende anschließend protokollieren.

Die Verteidigung trug für eine weitere angeklagte Person die Liste am Gegenständen vor, auf deren Herausgabe bei etwaiger Verurteilung verzichtet wird. Auch hier wurden Gegenstände ausgenommen.

Rechtlicher Hinweis Nr. 5

Wiederholt trug der Vorsitzende einen rechtlichen Hinweis vor. Bisher erhielten Lina und die zwei Angeklagten mit Alibis rechtliche Hinweise (Angeklagter 1 , Angeklagter 2, Angeklagter 1 und 2).

Dieses Mal richtete sich der rechtliche Hinweis an alle Angeklagten, jedoch im Speziellen an eine angeklagte Person, die bisher keinen erhalten hat. Sofern eine kriminelle Vereinigung nach §129 StGB festzustellen sei, wäre für diesen Angeklagten eine frühere Mitgliedschaft vorstellbar. Wie der Vorsitzende weiter ausführte, könne diese zwei Jahre länger andauern, als bisher angenommen. Grundlage hierfür seinen die Aussagen des Vergewaltigers und Verräters Johannes Domhöver (J.D.) im Zusammenhang mit den so genannten Szenariotrainings. Die Aussagen von J.D. seien dabei umfassend bedacht worden.

Die Verteidigung stellte daraufhin zwei Anträge. Der erste erbat eine Abschrift des rechtlichen Hinweises; der zweite forderte eine Pause ein, um sich in dieser zu beraten, hierfür muss jedoch die gesamte Verteidigung sowie alle Angeklagten zugegen sein.

Im Anschluss erkundigte sich die Verteidigung, woher die Annahme des Vorsitzenden kommt, dass der Angeklagte von Beginn an bei den genannten Trainings dabei gewesen sein soll. Der Vorsitzende erwiderte, dies ergäbe sich sinngemäß aus der Gesamtschau der Aussagen des J.D., jedoch wolle er sich nicht auf konkrete Passagen oder Äußerungen festlegen. Anschließend äußerte der Vorsitzende kurz seine Deutungsweise und gestand ein, dass dieser rechtliche Hinweis auch bereits vor zwei Monaten hätte verkündet werden können. Während der Schlussberatung werde sich zeigen, wie das Gericht die Zugehörigkeit des Angeklagten bewerte.

Auch verwies die Verteidigung darauf, dass der Vorsitzende am 88. Prozesstag bereits äußerte, dass der Senat einen rechtlichen Hinweis nicht ohne Weiteres erteilt, sondern, wenn die ernstzunehmende Möglichkeit einer Verurteilung dahinter steht. Dies bestätigte der Vorsitzende.

Hinweis der BAW

Den rechtlichen Hinweis nutzte Oberstaatsanwältin der BAW, Frau Geilhorn, um ihrerseits mit einem Hinweis um die Ecke zu kommen. Dieser basiere ebenso auf den Aussagen des J.D. und richtete sich an einen der Angeklagten. Sofern die Tatbeteiligung für ihn wegen dem Alibi im Tatkomplex Eisenach I entfiele, wäre aus ihrer Sicht zu erwägen, ob nicht eine mitgliedschaftliche Beteiligung in Frage käme. Dabei berief sich Frau Geilhorn auf Aussagen von J.D. zur angeblichen Teilnahme des Angeklagten an den vermeintlichen Szenariotrainings. Außerdem habe J.D. eine versuchte „Ausfahrt“ erwähnt, bei welcher der Angeklagte beteiligt gewesen sei. Diese Indizien sollten ihrer Ansicht nach zu einer Verurteilung hinsichtlich der mitgliedschaftlichen Beteiligung ausreichen. Die Ausführungen der Frau Geilhorn endeten damit, dass sie auch einen entsprechenden rechtlichen Hinweis des Vorsitzenden anrege.

Der Vorsitzende befand dies als interessant, jedoch sei ein rechtlicher Hinweis zu vernachlässigen. Der Zeitraum, für den die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung oder der Beteiligung an dieser zur Last gelegt werden könne, erhöhe sich nur geringfügig. Frau Geilhorn erläuterte, dass dem Angeklagten in der Anklageschrift die Beteiligung am Angriff gegen das „Bull‘s Eye“ vorgeworfen, sofern das wegfiele, sei für die BAW ein anderer Aspekt maßgeblich, um die Mitgliedschaft des Angeklagten in der Vereinigung nachweisen und weiterhin aufrecht erhalten zu können.

Nach einem Kurzem Wortwechseln zwischen Vorsitzenden, Verteidigung und BAW ergriff ein Senatsmitglied das Wort und wies daraufhin, dass die BAW beabsichtige, die Grundlage auszutauschen. Anstatt der Beteiligung am Angriffs auf das „Bull‘s Eye“, würde nun die Beteiligung an einer geplanten „Ausfahrt“ hinsichtlich der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in Betracht kommen.

Danach kam der Vorsitzende auf seinen rechtlichen Hinweis zurück, der sich zwar speziell an einen Angeklagten richten würde, aber alle meine, da nun ein früheres Bestehen der vermeintlichen Vereinigung angenommen werde. Dann kam der Vorsitzende auf den Antrag der Verteidigung bzgl. einer Besprechungspause zu sprechen. Der Vorsitzende mahnte an, dass die Verteidigung die Besprechung sicherlich ohne JVA-Bedienstete tätigen wolle, weshalb Lina aus dem Raum gebracht werden müsse. Die Verteidigung entgegnete, dies sei ihr bewusst. Die JVA-Bediensteten können im Raum, in Sicht-, aber nicht in Hörweite bleiben.

Kurz vor 11:00 Uhr verkündete der Vorsitzende eine zweistündige Pause.

Antrag auf Unterbrechung der Verhandlung

Nach Beendigung der Pause fragte der Vorsitzende die Verteidigung, ob die Pause ausgereicht habe, um Fragen zu klären. Diese entgegnete ihm, sie beantragt eine zweiwöchige Sitzungsunterbrechung. Schlüter-Staats fragte, ob nicht auf eine Woche ausreiche und forderte zugleich, dass die Verteidigung ihre Absicht unterfüttern müsse.

Die Verteidigung meinte, sie hatte überlegt, einen Aussetzungsantrag zu stellen, da nicht nur eine Tat erörtert werden muss, sondern alle. Dafür müssten die gesamten Verhandlungsprotokoll durchgelesen werden, auch zu den Anklagepunkte in den Tatkomplexen Böhm, Scholz und Ness. Zu allen müsste überlegt werden, ob Anträge zu stellen sind. Sofern der rechtliche Hinweis eher gekommen wäre, würde diese Situation nun nicht bestehen.

Der Vorsitzende erwiderte, er sei überrascht, d eine Auseinandersetzung mit allen Tatvorwürfen notwendig sei. Dem Angeklagten, an welchen sich der rechtliche Hinweis im Speziellen richte, würden diese gar nicht alle vorgeworfen werden. Zudem wurde der Vorsitzende gefragt, woher er die Aussagen des J.D. nimmt, dass der Angeklagte an den s. g. Szenariotrainings von Anfang an teilgenommen haben soll. Und auf diese Frage konnte, so die Verteidigung, der Vorsitzende lediglich auf die Würdigung der Gesamtschau der Aussagen des J.D. verweisen, ansonsten konnte er sich an nichts genaueres erinnern. Nach der Ansicht der Verteidigung, hat J.D. so etwas nicht gesagt. Diesen Umgang sieht die Verteidigung als Zumutung an. Zugleich kritisierte sie unter diesen Umständen die Erwartung, dass sie sich hier erklären muss, um eine Aussetzung zu beantragen.

Der Vorsitzende meinte, eine Aussetzung könne nicht beantragt werden, aber dies habe die Verteidigung auch nicht getan. Er erachte weiterhin eine Woche als ausreichend, da dem Angeklagten keine Tatbeteiligung an den Tatkomplexen Böhm, Scholz und Nees zur Last gelegt werde. Weder durch J.D. noch durch andere Personen gäbe es Verdachtsmomente für eine Tatbeteiligung. Für ihn sei hinsichtlich des heutigen rechtlichen Hinweises der verlängerte Zeitraum der Mitgliedschaft in einer angeblichen Vereinigung maßgeblich, welcher sich durch die Teilnahme an den s. g. Szenariotrainings ergeben könne. Zentral sei hier, ob es diese Trainings tatsächlich gegeben habe und welche Relevanz sie für diese Vereinigung gehabt hätten. Und die Bezüge zu den Trainings würden sich logischerweise aus den Aussagen des Zeugen J.D. ergeben.

Die Verteidigung äußerte, zwei Wochen Unterbrechung sind notwendig, um die Arbeit seriös machen zu können. Zudem verwies die Verteidigung auf eine Mail des Vorsitzenden, in der der rechtliche Hinweis angekündigt wurde und seitens des Vorsitzenden mitgeteilt wurde, an wen sich dieser richten soll und dass er die Verteidigung damit auch nicht überfallen wolle. Nun aber wirkt es wie ein Überfall, zudem ist der rechtliche Hinweis umfassender als zuvor durch den Vorsitzenden dargestellt.

Schlüter-Staats erwiderte, er werde sich mit seinen Kolleg:innen beraten, jedoch bestehe seine Auffassung dort, das eine Woche ausreichend sei.

Anschließend erhielt noch die BAW das Wort für eine Stellungnahme. Frau Geilhorn habe den rechtlichen Hinweis dahingehend verstanden, dass der Anknüpfungspunkt nur die s.g. Szenariotrainings und die Teilnahme an diesen sei. Weitere Einzeltaten hätte der Senat sonst äußern müssen. Daher erschließe sich es ihr nicht, weshalb die Verteidigung eventuell Beweisanträge zu den Einzeltaten stellen wolle. Über eine etwaige Dauer einer Unterbrechung habe hingegen der Senat zu entscheiden.

Anschließend verkündete der Vorsitzende eine kurze Pause. Nach dieser äußerte er, er könne die Position der Verteidigung nachvollziehen. Er vermute weiterhin, dass die Verteidigung lediglich eine Woche benötige, um befriedigende Ergebnisse zu erzielen. Dennoch gewähre er zwei Wochen. Jedoch wäre er dankbar, wenn die Verteidigung dem Gericht mitteilen würde, falls sie doch weniger brauchen. Ebenso, wenn es noch Beweisanträge geben sollte. Schlüter-Staats meinte, es wäre schön gewesen, wenn der Prozess vor Ostern geendet hätte. Nun beabsichtige er, zumindest die Beweisaufnahme zumindest vor Ostern zu schließen. In der Woche nach Ostern könne dann mit den Plädoyers begonnen werden. Letztlich ließ der Vorsitzende protokollieren, dass die Sitzung auf Antrag der Verteidigung für zwei Wochen unterbrochen werde und der nächste Prozesstag am 29.03. stattfinde.

Danach ging es kurz um eine Verhandlungspause in der Osterferienwoche. Eine Entscheidung dazu wurde jedoch nicht getroffen.

Gegenvorstellung der Nebenklage zur Erklärung zu dem Adhäsionsantrag vom 89. Prozesstag

Es folgte der Auftritt des Nebenklagevertreters des Eisenacher Neonazis Maximilian Andreas, Michael Hentze. Dieser beabsichtigte eine Gegenvorstellung zum Antrag der Verteidigung vom 89. Prozesstag, in der sie die Ablehnung des Adhäsionsantrags von Andreas forderte, vorzutragen.

Hentze behauptete, der Adhäsionsantrag sei nicht unzulässig. Richtig sei, dass J.D. ein Schmerzensgeld von 1.000,-€ an den Neonazis Andreas zu zahlen habe. Jedoch bestehe dadurch keine anderweitige Rechtshängigkeit, da J.D. Teil des hiesigen Verfahrens sei, somit gegen die Angeklagten ein Schmerzensgeld geltend gemacht werden könne.

Nach Hentze zahle J.D. ab März 2023 monatlich 50 Euro an den Neonazi Andreas.

Im Weiteren ging Hentze auf die Äußerung der Verteidigung ein, wonach Andreas in der Lage gewesen sei, unmittelbar nach dem Angriff zu einer Aussage im Polizeirevier zu erscheinen. Das habe seiner Ansicht nach nichts mit einer Schmerzensgeldforderung zu tun. Der Adhäsionsantrag ergänzte Hentze dahingehend, dass neben drei Angeklagten weitere Tatbeschuldigte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes zu verurteilen seien.

Im Anschluss äußerte sich der Vorsitzende noch zum Zivil- wie Adhäsionsrecht. Hentze solle mitteilen, wenn J.D. die ersten 50 Euro überwiesen habe. Die Verteidigung forderte, die Gegenvorstellung des Hentze schriftlich zu erhalten.

Abschließenden Worte des Vorsitzenden

Bevor der Vorsitzende die Sitzung schloss, verwies er darauf, dass der Angeklagte, der den heutigen rechtlichen Hinweis im Speziellen erhielt, nicht wegen der Beteiligung am Angriff auf die Neonazis Cedric Scholz und Enrico Böhm angeklagt sei. Sofern morgen eine Beteiligung bekannt werden würde, könne er hier trotzdem nicht für Beteiligung verurteilt werden. Dies sei aber entkoppelt von der Frage zu betrachten, ob er der Vereinigung nach §129 StGB zuzurechnen sei.

Anschließend ging er zu einer anderen angeklagten Person über und ihrer vorgeworfenen Beteiligung am Angriff auf Cedric Scholz. Hier erwähnte Schlüter-Staats, es sei bereits die Möglichkeit erörtert worden, wer die angeblichen Ausspähaufnahmen getätigt haben könnte. Sofern es eine Vereinigung nach §129 gegeben habe, sei die Ausspähung und der spätere Angriff dieser Vereinigung zuzurechnen.

Schließlich bat der Vorsitzende die Verteidigung erneut, etwaige Beweisanträge vorab kundzutun.

Damit endete der 90. Prozesstag gegen 13:50 Uhr.

Der nächste Prozesstag ist Mittwoch, der 29.03.2023 um 09:30 Uhr am Oberlandesgericht Dresden. Die aktuellen Prozesstermin findet ihr wie immer hier: soli-antifa-ost.org/prozess