Anlässlich der einjährigen U-Haft von Lina am 5.11.2021 veröffentlichen wir eine Solidaritätsbekundung, die uns als Briefsendung erreichte.
Liebe Lina,
ich las letztes einen Bericht einer politischen Gefangen, die ihre Zeit in Haft beschrieb, als eine Zeit, die ohne Maß vergehe, in der sie langsam das Verhältnis zu dem verlor, was draußen in der Welt geschah. So ähnlich, nehme ich an, fühlt es sich auch für dich an, da du nunmehr seit genau einem Jahr hinter Gittern sitzt und dir so viele Möglichkeiten verwehrt bleiben. Dass im Jahr 2021 noch an einem System festgehalten wird, das Unterwerfung, Abhängigkeit und Fremdbestimmung zum obersten Prinzip der Strafe macht, muss nicht verstanden, sondern radikal kritisiert werden. Neben vielen Dingen, die den Knast zu einer menschenunwürdigen staatlichen Institution machen, bedeutet in Haft sein immer, isoliert und abgetrennt zu sein – von Familie, von Freunden, vom gesellschaftlichen und politischen Geschehen,von Wissen und Informationen. Weil du also kaum mitbekommst, was sich alles im letzten Jahr hierzulande ereignet hat, will ich dir nur einige Ereignisse aus den letzten Monaten erzählen.Allzu viel hat sich in dem Jahr nicht verändert: nach wie vor Debatten über ‚das Recht‘ auf freie, faschistoide Meinungsäußerung, dutzende weitere ‚Einzelfälle‘ von Rassisten und AfD-Anhänder*innen in deutschen Sicherheits-, Ermittlungs- und Justizbehörden, Faschisten in den Parlamenten, Nazis an Unis, als Lehrer und Ausbilder, Diskreditierung emanzipatorischer Ideen und linker Politik in der Presse und den sozialen Medien. Sagen wir also: Es herrscht hierzulande der Normalzustand.
Die Meldungen über rechte Netzwerke in Polizei, Militär, Nachrichtendiensten und Justiz nahmen auch im letzten Jahr kein Ende. Vor wenigen Monaten wurden vom sächsischen MEK über 14.000 Schuss Munition entwendet und als Gegenleistung für private Schießtrainigs an die Firma „Baltic Shooters“ mit Verbindungen zum Nordkreuz übergeben. Eine ‚unabhängige‘ Expertenkommission vom Herrn Innenminister Wöller eingesetzt, konnte, welch Überraschung, jedoch keinerlei Verbindung zu rechten Terroristen feststellen. Die 17 ‚Einzelfälle‘ des MEK wurden versetzt. Die Antwort, wo die Munition verblieben ist, bleibt die ‚Exprtenkommission‘, bestehend aus zwei obersten Herren vom Verfassungsschutz, schuldig.
Letzte Woche dann die Nachricht eines ultrarechten Ausbilders beim BND. Seit mindestens drei Jahren ist seine rechte und damit per se verfassungsfeindliche Gesinnung bekannt. Aber erst jetzt im Oktober 2021 wurde er ‚ausgesperrt‘. Welche Werte und ideologischen Leitbilder er wohl in seiner Ausbildungs- und damit ‚Vorbildfunktion‘ vermittelte, liegt auf der Hand – völkisch-nationalistische.
Du erinnerst dich vielleicht an die Ereignisse um die Frankfurter Buchmesse 2017, als damalige sogenannte Rechtspopulisten, heute selbstbewusste Faschisten, ihre rassistische, völkisch-nationalistische ‚Meinung‘ frei äußern und Stände auf der Messe halten durften? Die Hoffnung, der damalige Diskurs habe die Veranstalter der Messe dazu bewegen könne, Nazis und ihre Verlage, wie dies Philipp Stein und Volker Zierke und ihr rechter Verlag ‚Jungeuropa‘ sind, keinen Bühne mehr zu geben, war natürlich eine naive. Trotz Absagen von Autor*innen brachten die Veranstalter der Buchmesse wie auch damals das Argument der Meinungsfreiheit zur Verteidigung ihrer Entscheidung ein. Mir war nicht klar, dass es Aufgabe eines Messeveranstalters ist, für Brandstifter das Recht auf Verbreitung antidemokratischer, faschistoider Ideologie und pseudowissenschaftlicher, verschwörungstheoretischer Inhalte durchzusetzen.
Auch Leipzig war erst neulich wieder zu beschämender Bekanntheit gar in der weltweiten Presse gelangt: ein Berliner Sänger wollte im Westin Hotel in Leipzig einchecken. Weil er aber einen Davidstern als Kette trug, wurde ihm das Einchecken seitens zweier Hotelmitarbeiter verwehrt. Wenn er den Stern ausziehe, könne er auch einchecken, so die Ansage dieser Antisemiten. Welch Überraschung – die Debatte dreht sich seitdem um den Verdacht, ob denn der Betroffene überhaupt die Wahrheit sagte, ob er sich dies nicht ausgedacht habe. Beweise, wie Videoaufnahmen und ähnliches, werden von der Springerpresse gesammelt, das Hotel hat eigene Ermittlungen in Auftrag gegeben und wird seitdem gut bewacht. Welch zynischer plot twist: von der Securityfirma Pro GSL, die Tobias Brendel und Oliver Riedel gehört. Zwei Naziunternehmer mit nachweislichen Verbindugen zur bewaffneten Neonaziszene und mit NSU-Verbindungen, dessen stramme, heimatliebende Secus nun das Hotel und seine antisemitischen Mitarbeitenden vor möglichen Angriffen schützen. Wie schnell die Menschen dabei sind, Jüd*innen zu unterstellen, sie würden lügen und sich in den Mittelpunkt drängen, zeugt doch vom manifesten, alltäglichen Antisemitismus.
Dass die größten Feinde einer freien und gerechten Gesellschaft, wie organisierte Barbaren vom III. Weg letztens an die polnische Grenze mobilisierten, um bewaffnet in den Kampf gegen über Belarus geflüchtete Menschen zu ziehen, will ich nicht unerwähnt lassen. Auch damit das Bild der Bandbreite an rechten Aktueren und ihrer Raumnahme durch rechte Gewalt halbwegs vollständig ist. Ein Bild, welches ein Großteil dieser möchte gern entnazifiziert deutschen Gesellschaft nach wie vor verdrängt, ignoriert und dabei aber mit dem Finger reflexartig auf Linke Akteur*innen zeigt.
So ist es leider auch keine neue Nachricht, dass die Repression und Diffamierungen, die du und die anderen Angeklagten als Antifaschist*innen erfahrt, nicht abnehmen. Die fleißigen Sokos sind wahrlich verbissen, obwohl das einzige, was bei den Ermittungen ans Licht kommt, ihre eigenne Verstrickungen zur Neonazi-Szene sind. Hausdurchsuchungen in Jena, letzte Woche wieder erst eine wiederholte, 10-stündige in Connewitz, eine Demo der Autonomen in Leipzig letzten Monat komplett samt Ersatzveranstaltungen verboten.
Und dann, am 13. Oktober wurden Jo und Dy zu fast 5- und 6-jährigen Haftstrafen verurteilt. An dem Tag war ich wirklich dermaßen sprachlos und traurig (und ich komme ja eigentlich nicht so schnell in die Situation, mich ohnmächtig zu fühlen). Der politische Verfolgungswille des CDU-geführten Innenministeriums in BaWü und das entsprechende, unverhältnismäßige Urteil des Gerichts haben in meinen Augen wieder mal bestätigt: es besteht eine tiefsitzende, latente Abwehr linker Ideen und ein manifester, politischer Wille, antifaschistische Organisierungen nachhaltig zu schwächen. Jedenfalls wird auch im letzten Jahr fleißig und insbesondere von etlichen Seiten die Hufeisentheorie, nach der Rechtsextremismus und Linksextremismus letztlich zwei Seiten einer Medaille seien, bemüht. Es findet also nach wie vor eine vollkommen undifferenzierte und geschichtsvergessene Gleichsetzung von rechts und links statt, die nicht nur mich, sondern viele andere kluge und aufgeklärte Gefährt*innen wütend macht.
Aber es gibt auch gute Nachrichten: Das selbstbewusste und in manchen Regionen hegemoniale, also allgemein akzeptierte Gebaren von Nazis in Räumen des alltäglichen Lebens, also mitten in dieser Gesellschaft, kann und wird zum Glück nicht unbeantwortet gelassen. Die radikale Linke hatte, das will ich dir noch erzählen, am 18. September eine bundesweite Demonstration in Leipzig durchgeführt. Mit einpaar tausend Leuten, mit Gruppen aus den verschiedenen Regionen und sagen wir mal, mit einem dem Ausdruck der Demo entsprechenden Abschluss. Du kannst dir vorstellen, wie sich die sächsische CDU und AfD kurz vor der Bundestagswahl, aber auch die Medienvertreter*innen draufgestürzt haben. Über das eigentliche Anliegen, die Kritik am rechten Normalzustand und an ihnen als Teil dieses Normalvollzugs, kein Wort!
Ach weisst du, da spüre ich schon auch dieses Gefühl, dass ich selbst an mir gar nicht so mag: Hass. Gegen Nazis und Faschisten und die staatlichen Strukturen, die sie viel zu wenig abstrafen, sie im Gegenteil gar schützen und stärken. Hass ist ein Gefühl, ohne das ich eigentlich lieber leben würde. Aber es ist in dem Kontext und aus der Perspektive eines konsequenten Antifaschismus ein buchstäblich menschliches Gefühl – weil er die emotionale und humane Reaktion auf Faschismus in seinen alten und potenziell neuen Formen ist. Der Hass gegen Nazis spricht also eher für, als gegen mich und andere Genoss*innen. Das Antifa-Ost-Verfahren und die andauernden Ermittlungen nach § 129 vestehe ich immer auch als Angriff auf die gesamte antifaschistische Bewegung, wie Thüringer Genoss*innen letztens so treffend formulierten. Der Kampf für eine freie Gesellschaft und gegen all ihre Feinde geht also weiter.
Ganz liebe und solidarische Grüße!