Am 7. Dezember veröffentlichte der NDR unter dem Titel „Links und gewaltbereit? Der Fall Lina E.“ eine Reportage, die entlang des Antifa Ost-Verfahrens die Gründe linkspolitisch motivierter Gewalttaten näher beleuchten möchte. Auch wenn das Ergebnis für viele nicht überraschend sein mag, wollen wir dennoch den Effekt (ob beabsichtigt oder nicht), den sie nun zur Folge hat, klar benennen und scharf kritisieren. Dieser Film erreicht vor allem eines: Er inszeniert die Anklageschrift (1) als „Krimi“ und stellt vielfach umstrittene Polizeiermittlungen aus einem noch laufenden (!) Verfahren als objektive Wahrheit dar.
Für die Reporter Volkmar Kabisch, Felix Meschede, Sebastian Pittelkow und Nino Seidel sind wesentliche Anklagepunkte des laufenden Verfahrens gegen die vier Angeklagten offenbar schon verurteilt. Sie sprechen immer wieder von „der Gruppe“ oder zeigen anhand von eigenen Grafiken die von der Soko LinX konstruierten vermeintlichen Verbindungslinien zwischen den Beschuldigten. Damit wird eine bereits nachgewiesene Tatbeteiligung suggeriert und zudem das medial hochstilisierte Bild von Lina als „Rädelsführerin“ unhinterfragt übernommen. Solche Vorverurteilungen durch Medienvertreter:innen sind gängige Praxis, jedoch keineswegs objektiv. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass dieses Bild im bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung keineswegs bestätigt wurde. Im Gegenteil: Lina wurde bisher von den Zeugen Cedric Scholz, Enrico Böhm und auch anderen Zeug:innen eher ent- als belastet (siehe hier und hier). Als wahrlich unprofessionelles Vorgehen sehen wir außerdem, dass an anderer Stelle des Films Interpretationen von Akteninhalten, die bisher nicht einmal vor Gericht verhandelt wurden, als Tatsachen dargestellt werden.
Besonders bedenklich ist dieses Vorgehen mit Blick auf die zugrunde liegenden Ermittlungen durch die Soko LinX (LKA Sachsen). Die sächsische Polizei sammelt seit Jahren Anhaltspunkte über Personen, die sie dem linken Spektrum zurechnet und interpretiert diese nach ihren Ermittlungsthesen. Was nicht passt, wird passend gemacht. Getreu diesem Motto wurden Details aus dem Privatleben von mehreren Beschuldigten zusammengefügt, bis bei vier Personen eine Vereinigung gemutmaßt und angeklagt werden konnte. Dieses auch vor Gericht kritisierte Vorgehen hat in Sachsen bereits zu drei ergebnislosen Verfahren (!) nach § 129 geführt. Die Soko LinX macht diese Form politischer Ermittlung zur Königsdisziplin – mit Methoden wie ungerechtfertigter U-Haft, widerrechtlichen Hausdurchsuchungen und eingestellten Verfahren. Sie steht deshalb unter massivem Druck, Erfolge abzuliefern – muss sie schließlich ihre Daseinsberechtigung, Finanzierung etc. beweisen. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als fragwürdig und professionell äußerst unsauber, ausgerechnet ihren Chef, Dirk Münster, der u.a. schon mehrfach durch reißerische Aussagen in Boulevardmedien in Erscheinung trat, als einzigen „Experten“ zu interviewen. Vor dem Hintergrund, dass zu dem dubiosen Vorgehen der Soko LinX mehr und mehr Verstrickungen ins rechte Milieu ans Licht kommen, ist dies besonders problematisch. So wurde im Antifa Ost-Verfahren bekannt, dass gegen unbekannt wegen der Datenweitergabe, mutmaßlich an das rechtsradikale Compact-Magazin, ermittelt wird. Ein Umstand, der in den bürgerlichen Medien allerdings kaum thematisiert wird. Mehr zur Soko LinX findet sich hier.
Des Weiteren findet in der Reportage kaum eine Einordnung statt, warum Antifaschismus heutzutage immer noch notwendig ist. Weder wird auf die organisierte Rechte und rechte Alltagsgewalt in Sachsen eingegangen, noch auf den bundesweiten Rechtsruck der letzten Jahre. Nicht einmal die eindeutigen Zahlen rechter Morde lassen die Journalisten begreifen, dass linke und rechte Gewalt weder in ihrer Qualität noch in der Quantität vergleichbar sind und eine simple Gegenüberstellung nicht nur schlicht falsch, sondern auch gefährlich ist.
Eine PMK-Statistik ohne kritische Beleuchtung ihrer Entstehung zu zeigen, ist eine Sache. Eine andere ist es, von einem „explosionsartigen Anstieg“ linker Gewalt zu sprechen und damit unkommentiert den Mitgründer der Soko LinX und Sachsens Innenminister, Roland Wöller (CDU), zu zitieren. Seit ihrer Gründung 2019 macht die Soko LinX jedes politische Graffiti zum Kriminalfall. Rechte Gewalt und rechte Propagandadelikte (wohlbemerkt unterschiedliche Statistiken) und rassistisch motivierte Straftaten werden jedoch in behördlichen Statistiken nicht systematisch und aus Gründen NICHT erfasst: „Die PMK spiegelt lediglich die polizeiliche Einschätzung einer Straftat wider. Wird im weiteren Verlauf der Ermittlungen – beispielsweise in einem Gerichtsverfahren – bekannt, dass die Tat rassistisch motiviert war, geht das in der Regel nicht in die Statistik ein.“ (2)
Für das SAO ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, dass hier junge Journalisten offensichtlich ihre Karriereleiter auf dem Rücken von Angeklagten in einem noch laufenden Verfahren hochklettern. Zudem ist es u.E. ein absoluter Tabubruch, Faschisten als gleichrangige Interviewpartner zu Wort kommen zu lassen und dabei ihre Hintergründe derart dilettantisch zu beleuchten. So ist Leon Ringl nicht einfach nur ein Neonazi. Leon Ringl wollte die in den USA mordende Atomwaffendivision in Deutschland aufbauen, ist international vernetzt und über Jahre maßgeblich für rechte Alltagsgewalt in Eisenach verantwortlich. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, was die Reportage in 38 Minuten lang übergeht:
Rechte Morde sind keine Einzelfälle und waren es nie. Sie haben System und fußen auf einer durchaus weit verbreiteten Ideologie der Ungleichheit und Unfreiheit. Rechte Kräfte haben (internationale) Strukturen, Parteien und steuerfinanzierte Organisationen. Rechte Akteur:innen sind in einschlägigen Internetforen diskursführend, sie organisieren gemeinsame Events einer völkisch-nationalistischen Kultur, in denen einzelne Personen wie Enrico Böhm, Cedric Scholz oder Leon Ringl tragende Rollen einnehmen. Die Behörden haben im Kampf dagegen nicht nur versagt, wie Hanau zeigt. Sie haben ihn nie wirklich ernsthaft angetreten und gar rechte Terrorstrukturen mit aufgebaut und gestärkt. Das prominenteste Beispiel dessen sind die Verstrickungen zwischen NSU und diversen Verfassungsschutz- und Polizeibehörden.
Reportagen wie diese bestätigen uns: Antifaschismus ist notwendig und unsere Solidarität ebenso! Freiheit für Lina und alle anderen inhaftierten Antifaschist:innen!
(1) – Lina und drei weiteren Personen werden neben verschiedenen Einzelstraftaten v.a. die Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 vorgeworfen. Dieser „Schnüffelparagraph“ ist sehr umstritten, da er häufig zur großflächigen Strukturermittlung genutzt wird.
(2) https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Erfassung_rassistischer_Straftaten.pdf